«Hast du gesehen, wie komisch der aussieht? Der ist ja viel zu dick, dünn, gross, oder zu hibbelig!» «Die ist so arrogant, eine richtige Zicke.» Schnell sind solche Sätze über unsere Lippen, ohne dass wir gross darüber nachdenken. Es ist uns in diesem Moment nicht klar, dass wir kontinuierlich und überall bewerten. Doch nicht jede Bewertung ist gut und nicht jede Beurteilung schlecht. Es gibt Bewertungen, die konstruktiv formuliert sind und andere, die einfach nur verletzen.
Warum wir ständig bewerten und uns sehr oft nicht bewusst ist, was wir damit auslösen können und was es für uns bedeutet, wenn wir uns selber ständig bewerten, darüber habe ich mir in diesem Artikel Gedanken gemacht.
In diesem Artikel erfährst du ausserdem:
BeWERTen
Bewertung enthält das Wort WERT. In meinem Verständnis bewerten wir immer dann, wenn wir eine Ware, eine Situation, die Leistung oder das Verhalten eines Menschen mit einem bestimmten Wert vergleichen, der uns wichtig ist. Für mich ist bewerten nicht dasselbe wie beURTEILEN. Bei Beurteilen verstehe ich eher, dass wir über eine Person, über eine Situation oder über eine Sache ein Urteil fällen und nicht mit einem für uns wichtigen Wert vergleichen.
Lass es mich anhand eines Beispiels erklären: Sagen wir mal, mir ist der Wert Qualität sehr wichtig. Nun bestelle ich bei einem Onlinehändler eine Bluse. Diese wird geliefert und ich bemerke beim Anprobieren, dass eine Naht nicht sauber vernäht ist. Nun vergleiche ich die Bluse mit meinem Wert «Qualität» und bewerte sie als «mangelhaft». Etwas komplexer sind Werte, die das menschliche Verhalten bewerten. Nehmen wir an, dass mir «Respekt» sehr wichtig ist. Eigentlich müsste ich jetzt erst wissen, was «Respekt» für mich bedeutet, bevor ich ihn objektiv bewerten kann. Doch meistens bewerten wir hier intuitiv und reagieren auf unsere verletzten Gefühle mit einer nicht ganz fairen Beurteilung. Wir merken schnell, wenn jemand gegen diesen für uns so wichtigen Wert verstösst. Ich kann hässig oder wütend werden, reagiere verletzt oder bin traurig.
Oft habe ich beobachtet, dass anstelle einer BeWERTung des spezifischen Verhaltens der ganze Mensch als respektlos oder «böse» beURTEILt wird. Diese Bewertung oder Beurteilung kann am Menschen hängenbleiben. In einem solchen Fall denke ich weiterhin so über ihn, auch wenn sich die Person schön länger nicht mehr respektlos verhält. Dazu aber später mehr.
Wann ist Bewerten sinnvoll?
Zur Veranschaulichung nehmen wir mal den Wert «Sicherheit». Bei einem Autounfall ist dieser Wert und das daraus folgende Bewerten nicht nur sinnvoll, sondern überlebenswichtig.
Schnelles Einschätzen der Unfallsituation, wie die Reaktion des Vergleichs mit dem Wert Sicherheit, führen u.a. dazu, dass die richtigen Massnahmen zur Sicherung des Unfallortes eingeleitet werden und Rettungskräfte schnellstmöglich Hilfe leisten und Leben retten können.
Es gibt natürlich auch Situationen, in denen bewerten nicht gerade überlebenswichtig aber durchaus sinnvoll ist - nämlich immer dann, wenn man daran wachsen kann. Dies ist aus meiner Sicht der Fall, wenn wir uns ein Ziel gesetzt haben. Von Zeit zu Zeit zu reflektieren, wo wir in Bezug auf unser Ziel stehen, was und wie wir etwas tun oder ändern können, führt nicht nur zum Erfolg, sondern zeigt uns auch, dass wir selber den Weg zum Ziel steuern und beeinflussen können. Um bei oben beschriebener Definition zu bleiben, bewerten wir auch hier unsere Werte.
Idealerweise habe ich bei meiner Zielsetzung aufgeführt, wie ich mir den Weg zum Ziel vorstelle. Ich habe aufgeschrieben, welche Fähigkeiten, Kenntnisse und Ressourcen ich dazu brauche und was mir auf diesem Weg wichtig ist. Mein Ziel ist zum Beispiel: Ich möchte einen Marathon laufen, obschon ich bis jetzt «nur» 10 Kilometer am Stück schaffe. Meine Fähigkeiten mich selbst organisieren zu können, meine Ausdauer und mein Durchhaltewillen sollen mir auf dem Weg zum Ziel helfen. Zudem hole ich mir Fachwissen von einem Trainer dazu. Wichtig ist mir, dass ich auf meinem Weg, kleine Erfolge feiere, dass ich auf meine Gesundheit achte, meinen Körper nicht überfordere und Spass an der Erfahrung habe. Alle sechs Woche plane ich eine Standortbestimmung. Hier reflektiere ich nicht nur, ob ich grössere Distanzen laufen kann, sondern bewerte, ob ich in meinen Ressourcen bleibe, auf meine Gesundheit achtete, wie es meinem Körper geht und ob ich noch immer Spass an der Erfahrung habe.
Natürlich können wir auch Leistungen von anderen Menschen bewerten. Dies geschieht tagtäglich in der Schule. Jedoch spricht man hier eher von Benotung. Der Wert ist also eine bestimmte Note.
Bewertungs-Macken verhindern eine objektive Bewertung
Während meiner Grundschulzeit mussten wir viele Aufsätze schreiben. Natürlich wurden diese Aufsätze immer korrigiert und benotet. Besonders in der Oberstufe hatten meine «Werke» hauptsächlich die Note 4.5. Ganz egal was ich schrieb oder wie viel Mühe ich mir gab, die Note blieb eine 4.5 und somit sprichwörtlich an mir kleben.
Mit diesem Beispiel möchte ich dir den Kleber-Effekt umschreiben. Dieser besagt, dass eine Benotung oder Bewertung einer bestimmten Leistung oder eines Verhaltens am Menschen kleben bleibt – zum Teil über Jahre hinweg. Das erklärt auch, dass der berühmte erste Eindruck äusserst wichtig sein kann, da er durchaus an einem hängen bleiben könnte. Diesen Eindruck zu korrigieren, ist nicht einfach und oft mit hohem Aufwand verbunden.
Der Kleber-Effekt gehört zu der Gruppe der Beurteilungs-Fehler. Ich nenne sie Bewertungs-Macken. Die Macken sind menschlich, jeder von uns besitzt mindestens eine und diese ist mehr oder weniger ausgeprägt. Um fair zu bewerten, ist es wichtig, sich seiner Macken bewusst zu sein und stets zu reflektieren, ob sie während einer Bewertung aufgetaucht ist oder ob man diesmal wirklich objektiv bewertet hat.
Eine weitere Bewertungs-Macke ist der Massstab-Fehler. Hier nehme ich mich oder eine andere Person als Massstab. Wenn ich zum Beispiel ein Mensch bin, der früh aus den Federn kommt und früh zur Arbeit geht und alle anderen, die später bei der Arbeit erscheinen, als zu faul bewerte, dann schliesse ich von mir auf andere. Ich habe das Gefühl, dass andere genauso sein müssten wie ich. Dieses Prinzip funktioniert natürlich hervorragend auch umgekehrt. Und unter diesen Vergleichen können wir leiden und es kann dazu führen, dass wir uns klein machen, das Selbstvertrauen schwindet und unter unseren Möglichkeiten leben.
Der Bewertungs-Mindfuck 1
«Mindfucks sind die Gedanken und Gedankenmuster, mit denen wir uns selbst sabotieren. Sie führen dazu, dass wir in bestimmten Situationen bzw. in unserem Leben unser eigentliches Potenzial nicht entfalten.» so Dr. Petra Bock – die Entdeckerin von Mindfucks. 2
Im Mindfuck-Modus führen wir eine Art innerer Dialog. Dieser ist oft sehr destruktiv und blockierend.3 Gesamthaft gibt es sieben verschiedene Mindfucks. Auf einen davon, möchte ich hier weiter eingehen: den Bewertungs-Mindfuck.
Dr. Petra Bock beschreibt diese Blockade folgendermassen: «Wir messen uns und andere an einem fixen Ideal. Und werten uns oder andere dann unangemessen ab oder auf. Im Bewertungs-Mindfuck suchen wir das sprichwörtliche Haar in der Suppe, bewerten und kritisieren uns in einer Form, die uns unter Druck setzt oder entmutigt.»4
Diese Beschreibung ähnelt ein bisschen dem oben beschriebenen Massstab-Fehler. Hinzu kommt die Reaktion daraus – dass sich unter Druck setzen oder entmutigt fühlen. Nicht selten bilden sich aus solchen Gedankenmustern Glaubenssätze, wie: «ich bin nicht gut genug.» oder «alle sind viel besser als ich». Sätze, die uns nicht guttun, die uns hindern, Dinge anzupacken oder mutig unseren Weg zu gehen.
Was aber kann man gegen solche Gedankenmuster tun? Erst einmal ist es wichtig sie überhaupt zu erkennen. Ein wichtiges Indiz dazu ist das «Fühlen». Wenn ich mich also das nächste Mal schlecht, schuldig, traurig, überfordert oder ähnlich fühle, frage ich mich ganz bewusst, welche Gedanken denn jetzt gerade diese Gefühle auslösen. Es hilft dabei sehr, diese Gedanken aufzuschreiben. Nach einer gewissen Zeit ist vielleicht sogar ein Muster erkennbar. Wenn ich also wieder schlechte Gefühle habe und Gedanken wie «ich bin nicht gut genug», dann habe ich mich mit jemandem verglichen und bewerte nun diesen Vergleich.
Wie wäre es nun, wenn du diese Gedanken durch eine Brille betrachtest, die grosszügig, offen und bewertungsfrei dir gegenüber ist? Wenn du dir eingestehen würdest, dass du eine sehr gute Beobachtungs- und Wahrnehmungsgabe hast und dadurch auch fair vergleichen kannst? Denn jeder Mensch ist anders. Es gibt vieles, was wir von anderen Menschen nicht wissen. Ist es dann fair Leistungen oder Verhalten zu vergleichen, von denen ich nicht die ganze Wahrheit kenne?
Je mehr du diese Brille aufsetzt oder übst eine solche Einstellung einzunehmen, desto besser wird es dir gelingen.
Rezept zum Unglücklichsein -> sich ständig mit anderen vergleichen
Wenn du wirklich unglücklich sein willst, dann kannst du das! Denn es liegt an dir, wie du dich fühlst oder eben nicht. Nur du kannst dein Leben ändern, nur du bist für dein Leben verantwortlich.
Wenn du also unglücklich sein willst, dann
«Das Dümmste, was du tun kannst, wenn du dir weiterhin seelischen Schmerz zufügen willst, ist, deine Startbedingungen anzuschauen und diese als Maßstab heranzuziehen, um zu beurteilen, was du alles erreicht und aus deinem Leben gemacht hast. Wenn du dir quasi sagen würdest: "Ich bin ich. Ich kann dazulernen und mich verbessern. Entscheidend ist, was ich aus mir mache mit den Fähigkeiten und Talenten, die ich habe. Ich bin einzigartig. Ich habe es nicht nötig, andere zu übertreffen. Wenn ich jemanden übertreffe, dann nur mich."»5
Was du mit diesem Artikel lernen durftest
Zuerst habe ich dir meine Definition des Wortes Bewertung mitgeteilt. Dann hast du erfahren, wann ich Bewerten als sinnvoll erachte – immer dann, wenn man daran wächst. Du hast zudem gelesen, dass Bewertung uns auch blockieren kann und was die Auswirkungen daraus sind. Sobald du verstehst, dass du diese Bewertungsmuster auflösen kannst und nur du allein dein Leben steuern und ändern kannst, hast du einen wichtigen Schritt in Richtung Glück und persönlicher Erfüllung gemacht. Lass mich dir zum Schluss noch folgendes mit auf den Weg geben:
Um wirklich glücklich zu sein, musst du die Verantwortung für dein Leben übernehmen. Übe dich darin, dich und die Leistungen und das Verhalten anderer Menschen mit der nötigen Objektivität, Reflexion und Fairness zu bewerten und lass den Gedanken los, anderen für deine Situation die Schuld zu geben.
Quellenangaben: